Montag, 4. Oktober 2010

Internet-Sensei

Bevor es weiter geht, sollte ich noch einen nicht ganz unwichtigen Punkt aufgreifen. Offensichtlich leben wir im Internetzeitalter, was viele Vorteile mit sich bringt. Schneller und einfacher Kontakt mit allen möglichen Personen, einfacher Zugang zu Informationen usw. Wenn ein neues bedeutendes Buch erscheint, erfahre ich das oft innerhalb von ein, zwei Tagen. Wenn ich Kampfkunst in bewegten Bildern sehen möchte, kann ich sofort Youtube besuchen und brauche nur noch auszuwählen. Es ist alles so leicht!

Aber Youtube-Clips zu sehen, Internetartikel zu lesen hat nichts mit Wissenserwerb, mit Keiko im herkömmlichen Sinne zu tun. Anstelle des tiefgründigen und langfristigen Keiko mit einem ausgezeichneten Sensei, liefert Internet-Sensei einen Überschuß an Infos. Tausende Clips, noch mehr Artikel.

Problem I – Niemand kann all diese Clips ansehen und Artikel lesen. Also kann ich bestenfalls kurze Eindrücke gewinnen.

Problem II – Woher soll ich wissen, mit welcher Sachkenntnis die jeweilige Person im Clip etwas vorführt oder im Artikel schreibt. Falle ich auf einen Anfänger rein oder schimmert da auf meinem Bildschirm ein Virtuose?

Problem III – Woher soll ich wissen, was im Clip gezeigt wird? Macht der Sensei, der berühmt und geachtet zu sein scheint, da alles richtig? Oder unterläuft ihm ein Fehler? Zeigt er es bewußt falsch vor? Ist es eine ernsthafte Übung oder nur lockeres Gemache? Welche Qualität haben die Fertigkeiten des Partners des großen Sensei?

Problem IV – Clips und Artikel sind meist nicht wirklich lang. Wie viele Erkenntnisse zum Stil des jeweiligen Vertreters kann ich dadurch ernsthaft erwerben?

Problem V – Was ist die Intention des Clips oder Artikels? Handelt es sich um Werbung für den Stil, dann dürfte im Clip alles sehr sauber und glatt ablaufen. Nichts spricht dagegen, zu Vorführzwecken Absprachen und spektakulär wirkende Effekte einzubauen. Kann ich eine abgesprochene Wirkung von einer realen Wirkung unterscheiden? Worin unterscheidet sich ein zu Reklamezwecken veröffentlichter Artikel von einem Forschungsbeitrag?

Problem VI – Meine eigene Vorbildung, meine eigene Voreingenommenheit führen zu Interpretationen des im ohnehin viel zu kurzen Clip gesehenen oder Artikel gelesenen Stoffs. Besonders Personen, die schon etwas länger einer Kampfkunst nachgehen, neigen dazu, Erfahrungen aus ihrem Training zu verallgemeinern. Selbstverständlich fühle ich mich dann bestätigt, wenn der tolle Sensei im Clip vermeintlich das gleiche macht, was ich zu  kennen glaube.

Problem VII – Durch die rasante Wissensverbreitung (kopieren, stehlen), finden sich Ideen, Theorien oder Konzepte sehr schnell an vielen Ecken und Enden des Internets. Und je häufiger Internet-Sensei die gleiche Theorie ausspuckt, desto richtiger muß sie ja sein, oder nicht?

Es gäbe noch weitere Probleme aufzulisten, aber ich denke, diese hier reichen. Ich selbst sah einen Clip im Internet, in dem ich als Partner meines Karate-Lehrers fungiere. Selbstkritisch fielen mir natürlich gleich meine Fehler auf. Wüßte ich nicht, was mein Sensei da macht, hätte ich keine Chance, es durch den Clip zu verstehen. Mit diesen Erkenntnissen ausgestattet, werde ich mir nie ein abschließendes Urteil über den Inhalt eines Internet-Clips erlauben.

Tiefgründiges, längerfristiges Keiko war die einzige Möglichkeit, tatsächlich Können und Wissen im Budō zu erwerben. Und das ist auch im Internetzeitalter noch so. Nur echter körperlicher Kontakt erlaubt mir echte Rückschlüsse auf die Qualität einer Kampfkunst.

Internet-Sensei brachte übrigens auch menschliche Schüler hervor. Ungeachtet all der oben genannten Probleme, saugen sie auf, was Internet-Sensei hergibt und verbreiten diese so erworbenen „Dinge“ ihrerseits als menschliche Internet-Sensei unter gutgläubigen Mitmenschen. Doch das nur am Rande.

Tatsächlich ist auch mein Blog hier nichts anderes als ein Teil des Internet-Sensei. Er zeigt nur kleinste Scheibchen einer Sache und darf bitte nicht mit echtem Keiko verwechselt werden. Was das Internet auf jeden Fall kann, ist zu zeigen, daß Budō ein weites und buntes Feld ist.

© Henning Wittwer